Nesselsucht (Urtikaria)
Die Nesselsucht ist eine wenig bekannte, aber häufige Erkrankung. So überraschend sich es sich zuerst auch anhört, aber auch Krankheiten haben eine Lobby in der öffentlichen Darstellung (oder auch nicht). So beginnt jedes Jahr zu Beginn der Saison ein Medienfeuerwerk zum Heuschnupfen oder im Herbst eines zum Beginn der Grippewelle. Die Migräne ist ganzjährig präsent, bestimmte Tumoren wie der Darm- und Brustkrebs sowieso. Nicht aber z.B. der Lungenkrebs, obschon ähnlich häufig, oder andere, zwar nicht lebensbedrohende, aber äußerst unangenehme Erkrankungen. Zur letzten Gruppe gehört die Urtikaria. Das deutsche Wort Nesselsucht weist auf die typischen Beschwerden hin. In Deutschland leiden rund eine Millionen Menschen darunter. Ungefähr 800.000 betrifft davon die chronische Form mit teilweise jahrelangen Verläufen, Frauen sind durchweg häufiger betroffen.
Beschwerden
Die sichtbaren Beschwerden sind "noch das Wenigste": Es bilden sich rote Flecken auf der Haut, die nach einigen Minuten erhaben werden mit einem hellen Zentrum. Diese Quaddeln ähneln denen nach Kontakt mit der Brennessel. Daraus leitet sich der Name ab: botanisch nennt sich die "zweihäusige Brennessel" Urtica dioica (lat. uro = ich brenne). Vergleichbar zum Kontakt mit einer Brennessel (oder einem Mückenstich) ist auch der intensive Juckreiz. Für die Urtikaria ist typisch, dass die Quaddeln über den ganzen Körper wandern; sind sie an der einen Stelle nach ungefähr 20 Minuten verschwunden, treten in der Zwischenzeit an anderer Stelle die nächsten auf. Teilweise fließen die Herde auch ineinander und bilden eine größere rote Fläche oder einen Streifen. Der quälende Juckreiz ist es, was den Betroffenen am meisten stört und schließlich professionelle Hilfe anfordern lässt. Die Zahl der Schübe ist sehr unterschiedlich: Betroffene berichten von mehreren täglich, andere von einigen Tagen Abstand. Übrigens leiden auch Tiere wie Pferd und Hund an Urtikaria-Schüben.
Varianten der Urtikaria
Sehr wichtig für das weitere Vorgehen ist die Unterscheidung zwischen akuter und chronischer Form und der auslösende Mechanismus. Von einer akuten Variante wird gesprochen, wenn das Geschehen nicht länger als vier bis sechs Wochen andauert. Tatsächlich hat man nämlich beobachtet, dass nach dieser Zeit neun von zehn Urtikaria-Patienten vollkommen beschwerdefrei sind, als wäre nie etwas gewesen. Und das interessanterweise, ohne dass eine Ursache bekannt oder gar behandelt wird. Experten vermuten, dass ein Großteil der Menschen in Deutschland irgendwann eine akute Urtikaria durchläuft. Im Klartext bedeutet dass, bei einer neu aufgetretenen Nesselsucht wird erst einmal abgewartet. Nur wenn die Beschwerden sehr groß sind, wird behandelt wie unten beschrieben. Nach einer Leidenszeit von sechs Wochen handelt es sich um eine chronische Urtikaria. Erst jetzt steigt man in die teilweise aufwändige Diagnostik ein.
Anamnese
An erster Stelle steht die genaue Anamnese: Wann und wie treten die Nesseln auf? So lassen sich in einem Teil der Fälle physikalische Ursachen finden: Druck, Kälte und Hitze lösen über nicht ganz geklärte Vorgänge in den Hautzellen Quaddeln und den quälenden Juckreiz aus. Das lässt sich dann mit einem aufgelegtem Gewicht, Eiswürfeln oder heißen Tüchern provozieren und objektivieren. Oft kann man durch Druck mit einem Spatel eine Quaddel erzeugen, indem der Untersucher z. B. auf den Rücken eine Zahl "schreibt", die noch nach Stunden sichtbar ist. Diese "Urticaria factitia" ist aber nicht nur bei der Druck-Urtikaria zu beobachten, sondern bei allen Formen mit starken Schüben. Sie ist daher kein sicheres Unterscheidungsmerkmal.
Diagnose
Die genannten physikalischen Auslöser sind bei sorgfältiger Untersuchung und entsprechender Testverfahren leicht zu verifizieren, aber insgesamt selten. Viel häufiger sind es Allergene, Pseudoallergene und andere Faktoren. Typische Allergene, die hier in Frage kommen, sind Nahrungsmittel wie Sellerie und Nüsse, Medikamente wie Penicillin oder so genannte Kontaktallergene wie Pollen, Latex und Mehl. Als Pseudoallergene gelten Nahrungsmittel (Erdbeeren, Speiseöle: "China-Restaurant-Syndrom") oder opiathaltige Medikamente sowie Röntgenkontrastmittel. Der Unterschied zwischen Allergen und Pseudoallergen ist wissenschaftlich-funktionell: Ersterer sind IgE-vermittelt (IgE: Immunglobulin E), die zweiten nicht. Die biochemisch verursachenden Komplexe wie das Histamin werden entweder als Mediatoren oder zum Komplementsystem gehörend gezählt, einem Teil des Immunsystem. Den Betroffenen ist das im Grunde egal, sind doch die Beschwerden identisch.
Zu den anderen Faktoren gehören so allgegenwärtige Dinge wie Tabakrauch und Stress sowie Infekte aller Art. Dazu zählen auch Gelbsucht, Wurmbefall und der Magenkeim "Helicobacter pylori". Hilfreich bei der Suche nach der auslösenden Stecknadel im Heuhaufen sind manchmal ein Symptomtagebuch und ein detailliertes Ernährungsprotokoll. Aus dieser Zusammenstellung sind mehrere Schlüsse zu ziehen: (Chronische) Urtikaria trifft oft, aber eben bei weiten nicht immer, Menschen, die "allergieanfällig" sind - und zum Beispiel unter Heuschnupfen leiden. Das herausfinden ist ein schwieriger Prozess, der einen erfahrenen Untersucher wie einen Hautarzt bzw. Allergologen erfordert. Zu guter Letzt gilt: Nicht selten bleibt die Ursache unklar.
Behandlung
Die akute Form wird, wenn überhaupt, mit Antihistaminika, den Heuschnupfenmitteln, als Tabletten behandelt. Nur wenn in seltenen Fällen schockähnliche Symptome vorliegen, wird entsprechend intensiver therapiert. Die ideale Behandlung der chronischen Form ist das Vermeiden oder Entfernen des Auslösers. Ist dieser unbekannt oder gelingt das nicht (Wer kann schon jedweden "Stress" abschalten?) sind ebenfalls die Antihistaminika das Mittel der ersten Wahl. Zu beachten ist, diese in genügend hoher Dosierung einzunehmen. Faustregel: doppelte Stärke wie beim klassischen Heuschnupfen. Damit verschwindet in der Regel der Juckreiz, während die Quaddeln noch bleiben.
In hartnäckigen Fällen bewährt hat sich die Kartoffel-Reis-Wasser-Diät: Nach ca. einer Woche Ernährung ausschließlich mit diesen Stoffen kommt der Juckreiz zum Stillstand. In Extremfällen wird auf Immunsuppressiva zurückgegriffen. Der Einsatz von Kortison ist nicht das "Gelbe vom Ei": es hilft zwar kurze Zeit, lässt aber die Beschwerden fast immer noch stärker zurückkommen. Auch die chronische Form verschwindet bis auf ganz wenige Ausnahmen irgendwann. Da das aber durchaus mehrere Jahre auf sich warten lassen kann, ist diese Tatsache im akuten Schub nur ein schwacher Trost.
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